Kennt du das: diese Situationen, in denen andere Leute behaupten, dich besser zu kennen als du dich selbst? Oder zumindest scheint es so. Dieser Moment, wenn jemand etwas über dich sagt – einfach so, aus dem nichts: „Du bist ja so ruhig!“ oder „Du bist wohl immer so aufgedreht?“ oder „Du bist ganz schön frech“ oder…
Ich habe viele Erinnerungen an solche Gespräche und Situationen, in denen Menschen versucht haben, mich einzuschätzen. Interessanterweise sind diese Erinnerungen ziemlich lebendig. Ich glaube zu wissen, warum. Ich bin lange Zeit ein wenig verwirrt gewesen, wenn es darum ging, die Frage „Wer bin ich?“ zu beantworten oder genauer zu beschreiben, woraus sich meine Persönlichkeit zusammensetzt. Wo liegen meine Stärken und meine Schwächen? Was macht mich grundsätzlich aus? Es war interessant und oft erstaunlicher, zu hören, wie andere mich einschätzten:
Ich dachte eigentlich immer, dass ich ziemlich brav bin – bis jemand sagte, ich sei frech. Ich dachte, dass ich zurückhaltend bin – bis jemand sagte, ich sei direkt. Ich glaubte, dass ich schlecht einzuschätzen bin – bis jemand behauptete, ich sei durchschaubar. Also wer bin ich jetzt eigentlich?
Zurzeit befasse ich mich gern mit persönlichkeitspsychologischen Themen und bin dabei in einer Zeitschrift (PSYCHOLOGIE HEUTE compact, Heft 48) auf folgende Aussage in einem Artikel von Heiko Ernst gestoßen: „Wir leiten und lesen aus unserem Verhalten ab, welche Eigenschaften wir haben: Ich bin das, was ich tue, und ich bin so, wie ich es tue.“ Genau das hatte ich immer versucht. Doch wenn unser Verhalten nicht immer so gleich ist, kann uns das durcheinander bringen. So erklärt der Artikel auch weiter: „Diese Theorien sind nicht falsch, aber unvollständig.“ Es reicht also nicht aus, lediglich das eigene Verhalten zu betrachten. Da kommen noch die anderen ins Spiel. Denn oft ziehen wir nicht nur durch unsere eigene Einschätzung Rückschlüsse über uns selbst. „Wir beobachten, wie andere auf uns reagieren – und schließen daraus, wie wir sind.“ Doch die anderen reagieren nicht nur. Sie ziehen auch Rückschlüsse über uns.
Nach Heiko Ernst gibt es vier Zugänge, aus denen sich unser Selbstbild zusammensetzt: Es gibt die offensichtlichen Dinge – die, die jeder sieht. Wir sind zum Beispiel ängstlich oder lebhaft, haben Meinungen und Vorlieben, die wir offen zu Schau tragen und die uns bewusst sind. Dann gibt es Dinge, die nur wir selbst über uns wissen – Gefühle und Gedanken, die nur uns zugänglich sind. Dies ist also unser Innenleben. Außerdem besitzen wir Eigenschaften, die andere an uns sehen, wir jedoch nicht erkennen, wie zum Beispiel Geschwätzigkeit. Und letztendlich sind da noch Impulse und Motive unserer Persönlichkeit, die weder uns selbst noch anderen bewusst sind.
So viel zur Theorie. Was bringt uns das ganz praktisch? Mir persönlich hat es ein wenig dabei geholfen, zu verstehen, wie ich all die Jahre an die Frage „Wer bin ich?“ herangegangen bin. Es hat mir deutlich gemacht, dass ich mich ziemlich lange in einem Ungleichgewicht zwischen diesen vier Zugängen befunden habe und einige gar nicht als entscheidende Wege, mich selbst zu verstehen, erkannt habe. Lange Zeit habe ich nämlich dem Offensichtlichen – dem, was andere Leute sehen konnten – zu viel Bedeutung beigemessen. Ich habe lediglich mein Verhalten und wie ich auf andere wirke beobachtet. Doch das allein hat mich in die ein oder andere Sackgasse geführt. Wenn ich zum Beispiel in einer Gruppe eher schüchtern auftrat und dementsprechend weniger wahrgenommen wurde, dadurch also eher nicht zu den “Coolen” gehörte, zog ich die Schlussfolgerung, dass das eine Tatsache war. “Cool” war also etwas, was ich niemals sein würde. Dabei vergaß ich jedoch, dass es bestimmte Eigenschaften an mir gibt, die für die Außenwelt schwerer zu sehen sind.
Und doch erklärt Heiko Ernst, dass so mancher durchschaubarer sein kann als ein anderer. Dies liegt an verschiedenen Eigenschaften, die schlicht schneller hervorstechen. So sind es “vor allem extravertierte, emotional stabile, warmherzige und in ihrem Verhalten konsistente Charaktere”, die durchschaubarer sind. Diese Merkmale würden als eine Art Verstärker dienen, da sie andere Persönlichkeitsmerkmale sichtbarer machen.
Es ist wichtig zu erkennen, dass andere Menschen uns meist nicht zu Genüge einschätzen können und wir somit von diesen Wertungen nicht abhängig sind. Jedoch kann es auch naiv sein, dieses Fremdbild völlig zu ignorieren, nur weil es mit dem Selbstbild nicht zusammenpasst. Die Erklärung “Der kennt mich einfach nicht gut genug!” liegt nahe. Aber was, wenn diese Fremdeinschätzung etwas über uns sagt, was wir selbst noch nicht wussten (dritter Zugang)? Wir sollten nicht zu schnell sein, diese Einschätzungen abzutun. So sagt Ernst zum Beispiel, dass Ehepartner die genauen Grade an Angst, Ärger, Dominanzstreben, Selbstisolation und Rückzug viel genauer einschätzen können als Betroffene selbst. Sie seien dadurch sogar eher geeignet, ein Herzinfaktrisiko vorherzusagen!
Nachdem ich den Artikel von Heiko Ernst komplett gelesen habe, frage ich mich, was er nun konkret für mein Leben bedeutet. Mir persönlich wird deutlich, dass ich mich weniger stressen muss, um die Frage “Wer bin ich?” zu beantworten. Denn wenn andere mich falsch einschätzen, kann ich entspannt wissen, dass ich es selbst oft besser weiß. Und doch kann ich mir Feedback bei meinen Mitmenschen einholen, wenn ich mir selbst unsicher bin, wie ich auf andere wirke. Denn wir können eben doch manchmal überraschend anders sein, als wir selbst denken. Die Frage “Wer bin ich?” wird dadurch für mich eher zu einem “Wie bin ich?” – denn meine Persönlichkeit ist wandelbar und muss gar nicht immer so gleich sein. Letztendlich definiert sie mich nie endgültig. Und um noch einmal Heiko Ernst zu zitieren: “Wir vergessen nämlich, dass jeder selbst Schauspieler auf einer Bühne und viel zu sehr mit der eigenen performance beschäftigt ist.” Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir uns ständig gegenseitig genauestens beobachten und einschätzen, denn wir konzentrieren uns meist viel zu sehr darauf, wie wir selbst rüberkommen. Da komme ich nicht umhin, mein “Ich” ein wenig zu belächeln. Als Schauspieler sollten wir uns vielleicht nicht immer all zu ernst nehmen.
Constanze
(photo by TeroVesalainen)