Vor kurzem, als ich in der Straßenbahn saß, belauschte ich das Gespräch von zwei jungen Männern (Hände hoch, wer sonst noch Gespräche in der Bahn belauscht!). Ich liebe es, bei angeregten Diskussionen mit halbem Ohr dabei zu sein. Manchmal würde ich gern mit ins Gespräch einsteigen, aber dafür fehlt mir dann doch der Mut. Vor allem dieses Mal ärgerte mich das! Ich musste wirklich an mich halten, nicht zu protestieren – nicht anwaltlich für etwas einzuspringen, was mir merkwürdigerweise am Herzen liegt: das Plattenbaugebiet.
Einer der beiden Männer lebte anscheinend zentrumsnah, während der andere Beratung bei seiner Wohnungssuche benötigte. Der erste riet ihm davon ab, in besagtes Plattenbaugebiet zu ziehen: „Da lebt halt schon ein bestimmtes Milieu – das ist wie eine eigene kleine Stadt. Und man muss 15 Minuten mit der Straßenbahn in die Stadt fahren!“ Ich riss mich zusammen, nicht die Augen zu verleiern. Über die Bedeutung einer Viertelstunde kann man wirklich streiten.
Ja, ich muss gestehen: Als wir im letzten Jahr von einer süßen kleinen Altbauwohnung in unsere jetzige Wohnung im Plattenbaugebiet umzogen, war auch ich ein wenig traurig über diese Veränderung. Und ich stellte es manchen Freunden gegenüber so dar, als ginge es schlicht nicht anders: Mehr Platz, mehr Zimmer und das für viel weniger Geld als in einer von Vintage-Charme besessen Altbauwohnung in der Innenstadt. „Wenn wir das gegeneinander abwägen, ist es so nun einmal sinnvoller.“ Das sehe ich auch immer noch so. Doch umso länger ich hier lebe und umso mehr ich darüber nachdenke, merke ich: Ich habe, neben den praktikablen Gründen, eine tief verankerte (wohlgemerkt auch biographisch bedingte) Zuneigung zu Neubaublöcken und ich möchte damit aufhören, Dinge zu sagen wie „Na ja, im Neubaugebiet halt, ist eben günstiger“ wenn andere mich fragen, wo wir nach unserem Umzug nun wohnen.
Heute früh öffnete ich das Fenster in unserem Schlafzimmer ganz weit und lehnte mich hinaus. Das ist zu einer kleinen Gewohnheit von mir geworden: Einmal Kopf in die kalte Luft und schon bin ich wach! Aber es ist nicht nur das. Wir wohnen im Erdgeschoss unseres fünfstöckigen Blocks und ich habe das Gefühl, der Welt auf diese Weise „Guten Morgen“ sagen zu können. Im Erdgeschoss kommt es mir so vor, dem Leben ein Stückchen näher zu sein – mit den anderen Menschen, die immer wieder vorbeilaufen, mehr verbunden zu sein. Plattenbaugebiet und auch noch ganz unten? Das ist für einige Leute die schlimmste Kombination überhaupt. Sie fühlen sich unsicher, haben Angst. Und was noch dazu kommt: Man muss immer die Post für alle anderen im Haus annehmen.
Vielleicht bin ich naiv. Vielleicht denke ich einfach nicht zu viel darüber nach. Aber ich kann mittlerweile aus vollster Überzeugung sagen
, dass ich mich hier pudelwohl fühle. Hier, wo viele Rentner und große Familien wohnen, die sich eine andere Wohnung einfach nicht leisten können. Hier, in einer Gegend, die man wohl „sozialschwach“ oder so nennt. Hier fühle ich mich mittendrin – auch wenn ich eine Viertelstunde mit der Bahn fahren muss, um ins Stadtzentrum zu gelangen.
Ist es nicht alles nur eine Frage der Perspektive?
Indem ich die Post für andere annehme, kann ich in Kontakt mit Postboten und Nachbarn treten und jemandem ein Lächeln schenken puttygen ssh
, der an diesem Tag vielleicht noch gar nicht angelächelt wurde. Indem ich regelmäßig mit der Bahn fahre, kann ich Bücher lesen, für die ich mir sonst keine Zeit nehme, Gedanken nachhängen oder (zugegebener Maßen) Mails checken, auf Instagram herumscrollen… Ich kann freundlich die ältere Frau vom Nachbareingang grüßen, die einen großen Teil ihres Tages damit verbringt, aus dem Fenster zu schauen. Und ich muss gestehen: Auch ich beobachte gern durch unser Küchenfenster, wer in unseren Hauseingang aus- und eingeht. Ich versuche, mir Gesichter zu merken. Und ich hoffe, dass ich eventuell zur Belustigung von irgendjemandem beitrage, der mich früh morgens orientierungslos in der Küche herumlaufen sieht.
Und ist es nicht gerade gut, in einer Gegend zu leben, in der viele Menschen als bildungsarm abgestempelt werden? Stell es dir einmal vor: Arbeitslose und Akademiker, alleinerziehende Mütter und die durchschnittliche Mutter, Vater, Kind – Familie Tür an Tür… Ist das zu verrückt, um wahr zu sein? Würde das nicht gerade dieses Stigma ein wenig auflockern und Vielfalt in ein klischeebehaftetes Milieu bringen?
Und dann sind da noch all die anderen Vorteile dieser Wohngegend: Sofort verfügbares warmes Wasser, wenn man den Wasserhahn aufdreht. Ordentlicher Wasserdruck. Sinnvoll geschnittene Wohnungen statt verwinkelte Zimmerchen. Große Fenster.
Oh, ich weiß, wie schön es in Altbauwohnungen und Mehrfamilienhäusern ist. Wenn ich irgendwo zu Besuch bin, komme ich aus dem Schwärmen nicht heraus! Ich weiß, was man all meinen Argumenten entgegensetzen kann. Und deshalb geht es mir auch gar nicht um ein Abwägen, Pro und Contra – Listen oder Urteilen über den besseren Lebensstil. Es geht mir schlicht darum, zu einem Perspektivwechsel zu ermutigen: Es ist möglich, ein völlig erfülltes und schönes Leben im Block führen zu können. Ich jedenfalls tue es. Vielleicht ändert sich meine Wohnungssituation irgendwann noch einmal. Vielleicht auch nicht. So oder so mache ich das Beste daraus.
Vor ein paar Tagen fragte ich einen Bekannten, der mit der gleichen Straßenbahnlinie wie ich fahren wollte, ob er auch im Neubaugebiet wohne, und er antwortete: „Neeeee, da doch nicht!“ Und ich entgegnete „Wie, neeeee, da doch nicht? Ich wohn da auch!“ Ich mag es irgendwie, Leute damit zu erstaunen, dass ich in einem Neubaublock lebe und es mir wunderbar damit geht.
Und vielleicht traue ich mich ja, das nächste Mal in der Straßenbahn etwas zu sagen, wenn ein Student verzweifelt auf Wohnungssuche ist.
Constanze
(photo by Martin Loeffler)